pierangelo maset
Stationen einer Mikroästhetik des HYDE
Worin unterscheidet sich die Ästhetik des HYDE von anderen, zur
Zeit sich im Umlauf befindlichen Theorieansätzen?
Man muß zunächst bestimmen, in welchen Diskursfeldern jene unterschiedlichen
Theorien arbeiten, Gültigkeit besitzen und legitimiert werden. Eine an den
Hochschulen gelehrte Ästhetik ist etwas völlig anderes als eine ebensolche, die
möglicherweise in einer Bar diskutiert wird. Und naturgemäß lauert hinter
jedem theoretischen Prinzip der dumpfe, aber mächtige Geist der Verallgemeinerung,
der seinen eigenen Horizont zum allein gültigen erklären möchte.
HYDE und die Vize-Diktion
Wie sich etymologisch nachvollziehen läßt,
liegt im Prinzip des HYDE eine Strategie des Versteckens, Verbergens,
Verhüllens, Einhäutens, Verschachtelns, die nicht auf ein einziges Element zu
reduzieren ist. HYDE benutzt die Peripherie des Besonderen im Allgemeinen,
stellt sich einem entschiedenen Hier und Jetzt und reagiert auf die vorhandene
Virtualität ästhetischer Manifestationen mit einer vielschichtigen Intensität,
die von der Bewegung der Vize-Diktion geprägt ist. Die Verwendung des Begriffs
Vize-Diktion ist in diesem Zusammenhang erklärungsbedürftig:
So wie der Begriff "HYDE" selbst
eine Reihe von Vize-Diktionen mit sich führt, nämlich verstecken, verbergen,
verhüllen, aber auch: Haut oder Fell, so trifft dies im Grunde auf alle
wesentlichen Begriffe zu, und die Schwierigkeit, sich zu verständigen, ist auf
die verschiedenen Aktualisierungen der Vize-Diktionen zurückzuführen.
Ein Beispiel: Jeder kennt den Begriff
"Enttäuschungen", beinahe jeder hat bereits einmal eine Enttäuschung
erlebt oder eine ebensolche verursacht oder ausgelöst. Der Begriff steht
gemeinhin für das Scheitern guter Erwartungen. Diese Bedeutung erlangte er
jedoch erst nach dem 18. Jahrhundert, ursprünglich bedeutete enttäuschen:
"... aus einer Täuschung herausreißen, eines Besseren belehren." Die
negative Bedeutung war als Vize-Diktion im Begriff verhüllt, bis sie sich nach
langem Insistieren aktualisierte. Die Sinnverschiebungen, die die Vize-Diktion
ab einem bestimmten Zeitpunkt bewirken, sind aber nicht nur innerhalb des
sprachlichen Systems wirksam, sondern betreffen unser Denken, Handeln und
Fühlen insgesamt. So wird das Gefühl der Enttäuschung mit zahlreichen anderen
Begriffen assoziiert, die im Gehirn neuronale Strömungen auslösen, welche ein
Ereignis, das sich im Grenzbereich zur Enttäuschung befindet, orten und in ein
Koordinatensystem übertragen. Ist das Ereignis mit dem Begriff besetzt worden,
so setzt sich ein weiterer neuronaler Strom in Gang, der das Gefühl der Enttäuschung
in die Nervenbahnen weiterleitet und gleichzeitig zur Zentrale zurückkoppelt.
In anderen Worten: Der Begriff setzt das Gefühl frei. Wenn nun das Begriffsfeld
- in unserem Fall Enttäuschung - verschoben worden ist, d.h. durch die
insistierende Vize-Diktion in seiner Bedeutung verändert wurde, so verschiebt
sich zwangsläufig auch die Empfindung "Enttäuschung", da die
Empfindung mit Wahrnehmungen korrespondieren, die wiederum die Erscheinungen
auf Begriffe bringen. Hier deutet sich die schwerwiegende Dimension der
Vize-Diktion an, die, salopp ausgedrückt, die große Schwester des HYDE ist. Eine
vordringliche Aufgabe des HYDE ist die Aktualisierung, Praktizierung und
Exterminierung von Vize-Diktionen.
Ästhetik des Verschwindens
Gleichzeitig stellt sich die Frage nach
einer Ästhetik des Verschwindens. Dieses hat unser Kollege Paul Virilio bereits
in überaus amüsanter Weise skizziert. In seinem 1986 erschienenen, gleichnamigen
Buch ist folgender Anfang zu finden: "Es geschieht häufig beim Frühstück:
Plötzlich wird die Tasse losgelassen und ihr Inhalt über den Tisch verschüttet.
Die Absence dauert wenige Sekunden, Anfang und Ende sind abrupt. Die Sinne
bleiben wach, aber für äußere Eindrücke unempfindlich. So unvermittelt wie die
Abwesenheit ist auch die Rückkehr. Sprache und Gesten werden dort wieder
aufgenommen, wo sie unterbrochen worden waren. Die beiden Enden der bewußten
Zeit werden automatisch wieder zusammengefügt und bilden eine kontinuierliche
Zeit ohne erkennbare Einschnitte. Die Absencen können sehr zahlreich sein,
mehrere hundert am Tag, meist werden sie von der Umgebung nicht bemerkt
...." Hieraus läßt sich folgern, daß die Absence in dem Moment eintritt
oder ausgelöst wird, in dem die Wahrnehmung schockiert, in ihrem
kontinuierlichen Ablauf gestört und noch wichtiger: an ihrer Erwartung
gehindert wird. Die Wahrnehmung ist mit einem Hintergrund ausgestattet, der
zwar flexibel, dynamisch organisiert ist, gleichzeitig aber durch situationsspezifische
Rahmen und Vor-Bilder ununterbrochen Rekognitionen produziert. Diese Rahmen
und Vor-Bilder, die einen Großteil unserer Orientierung in der Welt ausmachen,
werden im Moment der Absence kurzzeitig perforiert. Da die Ereignisse aber in
einer sukzessiven raum-zeitlichen Abfolge stattfinden, ist es leicht möglich,
die Perforation selbst wieder verschwinden zu lassen, indem man die Tendenz der
Rahmen und Vor-Bilder zur dramatischen Geschlossenheit ausspielt. Doch es
bleibt eine Spur übrig, so als ob man mit einer Stahlnadel in einen Kuchenteig
piekst und beim genauen Hinsehen die Einstichstelle für kurze Zeit beim
Verschwinden beobachten kann. Das ästhetische Prinzip dieser Wahrnehmung hat
weitreichende Konsequenzen, wenn man die Analogie zur künstlerischen
Vorgehensweise bildet. Ist nicht die Kunst im Grunde diese Perforation der
Wahrnehmung und der ästhetische Prozeß ein Vorgang des Schaffens von Absence?
Ich denke, daß Virilio - ohne selbst eine
umfassende Ästhetik formuliert zu haben - darauf abzielt, auch wenn er die mit
seiner Fragestellung untrennbar verbundene Ontologie des HYDE unterschlägt.
Denn es ist nicht nur das Verschwinden in der Absence, das in diesem Zusammenhang
von Belang ist, sondern auch das Vorzeigen und Wegnehmen, das im Prinzip des
HYDE gleichsam in einer verschränkten Geste realisiert wird. Mittlerweise
liegen auch von anderen Theoretikern, ich denke etwa an den simulierten
Baudrillard, Texte vor, in denen die Tendenz der Dinge in Richtung ihres
Verschwindens beschrieben wird (vgl.
"Towards the vanishing point of art", in Rötzer/Rogenhofer:
"KUNST MACHEN", Müchen 1990):
Das Vorzeigen - Wegnehmen
Das Vorzeigen/Wegnehmen des HYDE, das das Verschwinden umhüllt, ist eine ästhetische Praxis außerhalb der Repräsentation. Es gibt dabei eine Ähnlichkeit zu einem durchaus bekannten psychologischen Phänomen: HYDE versucht, das von Sigmund Freud als Einübung der Repräsentanz zugeschriebene Fort! - Da! - Spiel durch eine öffnende Wiederholung in umgekehrter Bedeutung gegen die Repräsentation einzusetzen, was natürlich nicht immer gelingen kann. Daraus wird der strafbare Versuch des Da! - Fort!. Es geht nicht mehr darum, feste Werke zu schaffen, die gekauft, gehätschelt, eingelagert, ausgestellt, restauriert werden müssen, sondern darum, die Geste des HYDE performativ im zeitlichen Kontext der Perforation von Wahrnehmung einzusetzen. An dieser Stelle kann man im Sinne des HYDE philosophisch spekulieren, ob die Weltgeschichte insgesamt nichts anderes ist, als ein ständiges Vorzeigen - Wegnehmen. Denn es hat sich doch immer wieder gezeigt, daß die sogenannte "Aufarbeitung der Vergangenheit" vollkommen unmöglich ist, daß sie durch ein stets neues Vorzeigen - wegnehmen ausgelöscht wird. Aber mit solchen Spekulationen würden wir uns in eine Allgemeinheit begeben, die für die Semantik des HYDE nicht ausschlaggebend ist, obwohl das Kontinuum des Zu-Grunde- Gehens ja gerade selbst durch das Vorzeigen - Wegnehmen perforiert wird.
„Stationen einer Mikroästhetik des HYDE“ erschien im Hyde-Magazin
No.7; Berlin 1996