Christoph Willumeit
ÜBER ROBERT
LOUIS STEVENSONS „DR. JEKYLL AND MR.HYDE"
Wenn wir uns der Erzählung „Dr.Jekyll
und Mr.Hyde" zuwenden, dann wollen wir uns wegbewegen von der Rezeption
einer geronnenen Metapher, in der sich das Bild vom Doppelleben, der gespaltenen
Persönlichkeit und der moralischen Ambivalenz verdichtet. Diese Metapher ist
für uns wertlos, da sie in ihrer Universalität nur für vordergründige
Vergleiche taugt. Überhaupt geht es um Hyde und nicht um Dr.Jekyll und
Mr.Hyde, denn letztere soll für uns Ansatz zu einer Betrachtungsweise sein, die
sich mit dem Problem der Amoralität auseinandersetzt, nicht mit dem der
Moralität der überkommenen Metapher. So sehr Stevenson in dieser Geschichte
auch im Sinistren schwelt und so sehr uns die Szenerie auch als gothic vorkommen
mag, so vielschichtig sind die psychologischen Ebenen, auf denen sie sich
abspielt. Wohlgemerkt handelt es sich hier nicht um ein durch eine Handlung verbrämtes
Essay, sondern um eine richtige Story, und wir können Stevenson mit Sicherheit
nicht unterstellen, daß all die Lesarten und Interpretationen, die ihr im Laufe
der Zeit zuteil geworden sind, tatsächlich vom Autor beabsichtigt waren. Nach
allem hat Stevenson die Grundzüge der Geschichte zunächst geträumt und erzählte
seiner Frau, die ihn aus dem Alptraum weckte, daß er gerade "a fine bogey
tale" zusammengeträumt hätte. Nicht gerade der Stoff aus dem
intellektuelle Legenden geschmiedet werden ... Aber gerade die Erzählweise, das
Beleuchten der Begebenheit aus drei verschiedenen Blickwinkeln, zeugt davon,
daß die Erzählung mehr ist, als nur eine gewöhnliche Gruselstory.
Das meiner Ansicht nach größte Mißverständnis, was die gemeine Metapher von Jekyll
and Hyde angeht, ist das der Dualität, der scharfen Trennung von Gut und Böse.
Das mag daher rühren, daß es tatsächlich eine Verwandlung gibt, von der einen
zur anderen Person und daß ein Trank, ein Agens eine Rolle in dieser
Verwandlung spielt. Aber das Ende der Geschichte, in dem Henry Jekyll sein
Schicksal schildert, weist deutlich darauf hin, daß sich der Prozess der Verwandlung
verselbständigt, weil Hyde die Überhand gewinnt und Henry Jekyll zuvor nicht in
der Lage war, seine selbstauferlegte Abstinenz einzuhalten. Verzicht, Askese
und Enthaltsamkeit, Grundwerte der calvinistischen Weltanschauung, werden hier
zur Ursache für die Katastrophe. Die rigide Moral der viktorianischen Zeit,
das starre Puritanertum seines ehemaligen Freundes Dr.Lanyon, sind die Gegenpole
zu den blasphemisch genannten Experimenten, die Jekyll als Jekyll durchführt.
Und nach einer Zeit des Entsetzens über seine Taten in der Gestalt des Hyde
kann Jekyll nach einem gewissen Verdrängungsprozess der Versuchung nicht widerstehen,
sich aufs neue der Verwandlung zu unterwerfen - denn eine Unterwerfung ist es
ganz ausdrücklich. Jekyll ist sich seiner Person bewußt, er besitzt die Gabe
der Selbstreflexion. Hyde dagegen ist mit dieser Fähigkeit nicht ausgestattet.
Nur am Ende, als sich die Grenzen der beiden Wesenheiten mehr und mehr zu verwischen
beginnen, ist auch Hyde sich für Augenblicke seiner bewußt.
Jekyll spricht von seiner Person als ein Gemisch von Gut und Böse
und konzediert die ganze Ambivalenz der menschlichen Natur. Hyde aber ist, so
sagt er, das reine, das pure Böse. Evil. Hyde ist nur ein Teil von Jekyll, eine
eindimensionale Figur, die sich des Verlustes der "guten Seite" nicht
bewußt ist, wobei wiederum Jekyll die Hölle der Abstinenz zu durchleben hat,
wenn nicht in der Gestalt des Hyde, Abstinenz von was ? Was ist es, nach dem
Jekyll sich so sehr sehnt, wenn nicht nach der eigenen Gestalt ? Es ist die
Freiheit von den moralischen Zwängen und Obligationen der Gesellschaft, in der
sich Jekyll bewegt. Freiheit wird mit dem Hintersichlassen von jeglichen
moralischen Zwängen gleichgesetzt; sich Freiheiten nehmen; die Freiheit,
anderen die Freiheit zu nehmen - und das alles ohne irgendwelche Konsequenzen.
Genau hier hebt sich das klassische Verständnis vom Doppelleben, von der gemeinen
Metapher Jekyll und Hyde auf. Jekyll weiß sich schuldig, aber selbst im
letzten Satz seines Geständnisses, drückt er seine Gleichgültigkeit darüber
aus, was mit Hyde geschieht , wenn er, Jekyll, verschwunden ist. "It was hyde, after all, and hyde
alone, that was his guilty," sagt er schon vorher, und damit wird die
moralische Dimension der Geschichte auf den Punkt gebracht: Was ist das für eine
Freiheit, in der die eigenen Handlungen keine Konsequenzen haben; in der keine
Verantwortung für das eigene Tun übernommen wird ?
Die Freiheit skrupellos zu sein, weil es kein moralisches System
gibt, in dem sich das Wesen bewegt, ist keine solche, da keine Maßstäbe mehr
vorhanden sind, die einen Zustand als frei oder unfrei erscheinen lassen. Das
Empfinden einer Freiheit, einer Loslösung von der ihn einengenden Moral,
empfindet Jekyll durch die Erinnerungen an die Taten Hydes. Hyde selber ist
sich seiner Skrupellosigkeit nicht bewußt, er lebt sie nur. Um diese zweifelhafte
Freiheit genießen zu können, muß Jekyll er selbst sein und das Verlangen spüren,
Hyde zu sein. Eine paradoxe Situation, die nicht mehr damit erklärt werden
kann, daß Jekyll in die Kutte eines anderen
schlüpft, um unerkannt mit diabolischer Freude Verbrechen zu begehen.
Hier handelt es sich nicht um eine gespaltene Persönlichkeit, bei der die eine
Person nicht weiß, was die andere tut. Nein, Jekyll hat sich ein Kunstwesen geschaffen,
ein ideelles Wesen, dessen Existenz er nur genießen kann, im Verlangen das
Andere zu sein. Nur die beständige Zeugenschaft der taten Hydes macht für
Jekyll am Ende noch jenen Reiz aus, dem er sich schließlich nicht mehr entziehen
kann.
"Men have before hired bravos to transact their crimes, while
their own person and reputation sat under shelter. I was the first that ever
did so for his pleasures. I was the first that could thus plod in the public
eye with a load of genial respectability, and in a moment, like a schoolboy,
strip off these lendings and spring headlong into the sea of liberty."
Jekyll, der dieses Kunstwesen erschaffen hat, das sich da ohne Skrupel
in einen Ozean der Freiheit wirft, hat dies also nur getan, um genau diesen
Zustand zu genießen. In mehreren Passagen läßt sich Henry Jekyll über den
Zustand aus, der ihn so glücklich sein läßt, wenn er Hyde ist - an anderen Stellen
wiederum konstruiert Jekyll Hyde als eine von ihm völlig seperate Entität. Ob
diese auffällige Unschärfe nun vom Autoren gewollt ist oder nicht - wobei ich
letzteres vermute - ist eigentlich egal für unsere Schlußfolgerung. Jekyll ist
sich seines Tuns bewußt, und er ist wenigstens in der Erinnerung an die Taten Hydes
Zeuge seiner eigenen Verbrechen. Andererseits ist er in der Lage, relativ
detailliert Empfindungen zu beschreiben, die Hyde hat, wenn er manifest ist.
Dann aber weißt er jegliche Verantwortung, jegliche Schuld am Treiben Hydes von
sich; verdrängt sie, obwohl er dessen Schöpfer ist. Trotz der Unmöglichkeit
eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen Jekyll als Hyde und Hyde, wissen wir,
daß Hyde offensichtlich ein Teil Jekylls ist, der isoliert worden ist, und dessen
Amoralität das Moment der Faszination darstellt. Hyde, homonym mit hide, dem
englischen Wort für "verstecken" ist vielleicht ein Hinweis auf die
vordergründige Absicht des Autors zu sagen, daß in jedem Menschen in einem
hinteren Winkel versteckt der Wunsch nach Amoralität lauert; einem Zustand, der
im Zusammenhang mit der calvinistischen Weltsicht als das personifizierte Böse
gesehen werden kann. Mit Rücksicht auf die Zeit und die gesellschaftlichen
Umstände, in der die Erzählung erschienen ist, ist das der eigentliche schockierende
Umstand: Jekyll hat sich die Freiheit genommen, ein amoralisches Wesen zu
schaffen, um Lustgewinn daraus zu ziehen, daß er Zeuge dessen Taten ist. Der
Schwache, der niedrige Charakter, der nicht in der Lage ist, sein Verlangen zu
beherrschen, auch wenn es noch so schädlich ist für andere; derjenige, der
die puritanische Moral mit Füßen tritt, ist Jekyll und nicht Hyde, der ja von
vornherein nicht mit moralischen Maßstäben ausgestattet ist. Amoralität macht
stark, denn es existieren keine Skrupel. Und Schuld ist eine Qualität, die keinen
Eingang findet in die Befindlichkeit einer amoralischen Kreatur.
Henry Jekyll erscheint uns in diesem Lichte besehen also mehr und mehr als
genau das abscheuliche Wesen, das er selbst so angewidert als Hyde beschreibt.
Schlimmer noch: Er weißt Verantwortung und Schuld von sich, in dem er das
Wesen, das beides nicht kennt als den Übeltäter denunziert.
Hyde ist ein Teil von Jekyll, aber wie Jekyll selbst beschreibt,
ist Hyde seinem Schöpfer gegenüber indifferent. Hier kommen wir auf die
interessante Frage, warum Hyde nicht als Zustand von Jekyll zu definieren ist,
wie es das Verständnis der gemeinen Metapher eigentlich verlangt: Wenn Hyde
einen isolierten Teil von Jekylls Persönlichkeit darstellte, eine reine Form
des Bösen, das nach seiner Vorstellung in jedem Menschen wohnt, dann ist er ja
nicht etwa ein inverser Jekyll, sondern etwas gänzlich Künstliches, da die pure
Form zutiefst unnatürlich ist. Verstärkt wird dieser Punkt durch die Tatsache,
daß wir bereits festgestellt haben, daß der eigentliche Schurke in dieser
Geschichte Jekyll und nicht Hyde ist. Damit ist also die Metapher, die sich auf
ein Doppelleben bezieht, für uns uninteressant.
Nun ist es natürlich kein schöner Zug von Mr.Hyde nachts durch die
Straßen zu wandeln, kleine Mädchen umzurennen und alte Adlige zu erschlagen,
aber die eigentlich sinistre Qualität seines Treibens wurde für damalige
Verhältnisse durch die Andeutungen auf die würdelosen Vergnügungen erzeugt, denen
Mr.Hyde so nachging. Was das für Vergnügungen gewesen sein mögen ist unserer Imaginationskraft
anheim gestellt, läßt jedoch im Hinblick auf die Dinge, die er mit alten Adligen
und kleinen Mädchen anstellt nichts Gutes ahnen. Besonders zu beachten ist die
Mühe, die der Autor sich gibt, um Mr.Hyde nicht gerade zu einem Sympathieträger
werden zu lassen. Die Schilderung seines Äußeren und die Beschreibungen
dritter Personen von der Gestalt des Mannes lassen keinen Zweifel aufkommen,
daß Mr.Hyde als Abomination, als Ausgeburt der Hölle zu verstehen ist. Hierbei
ist jedoch nochmals zu bemerken, daß die Erzählung zuvorderst "a fine
bogey tale" für Stevenson war, und dann erst eine Exploration in die Natur
der menschlichen Moral. Unser moralischer Held Hyde mußte also auch von der äußeren
Erscheinung her das verkörpern, was ihm als Rolle zugewiesen wurde: die des
schwarzen Mannes, des bogey-man. Das reine Böse mußte schließlich auch als
solches zu erkennen sein.
Für Stevenson und seine Zeit war Jekyll zwar der schwache Mensch,
der einer Versuchung nicht widerstehen konnte, aber Mr.Hyde war ein ganz
schändlicher Verbrecher, und das Fehlen von Moral keine Entschuldigung (ein
Paradoxon hier) für seine Taten. Henry Jekyll wurde sein eigenes- und das Opfer
Hydes, so jedenfalls ist die Geschichte im konventionellen Sinne zu lesen. Wir
aber wissen es besser und stellen uns schützend vor Mr. Hyde.
Christoph Willumeits Reflexion ÜBER ROBERT LOUIS
STEVENSONS „DR. JEKYLL AND MR.HYDE" erschien im Hyde-Magazin No.7; Berlin
1996