GEORG WAHNFRIED

 

 

 

"Die Ortsveränderung ist eine Bedingung der Landschaft." / Jean-Francois Lyotard

 

 

Die Reisen und die Dichter

Die reisenden Dichterinnen

 

Das Land für den Städter, die Stadt für die da vom Lande. Für den Inländer das Ausland, für Ausländer das Inland. Das Reisen als Veränderung des eigenen Standpunktes ist ge­nauso eine These, wie diejenige vom Abfahren und Ankommen, den kosmischen Geschwindigkei­ten, den points of no return. Ob ein Reisen­der tatsächlich unterwegs ist, gilt es noch zu beweisen. Denn der Traum von der Erkun­dung unbekannter Gegenden, die Entdeckung von verborgenen Seestraßen und Kontinenten ist nur Traum. Es gibt auf diesem Planeten nichts Unbekanntes mehr, alles ist bereits berührt, entdeckt, kartographiert. Allein das ist eine bittere Erkenntnis.

 

Am Ende des 2.Jahrtausends fehlt den Reisen das Mystische und Mystifi­zierende vergange­ner Zeiten. Wer denn ließe sich heute noch etwas erzählen. Uns ist, so glaubt man, schon alles gezeigt worden, wir haben auf verschiedentlichste Weise al­les gese­hen, wir haben alles erlebt. Auch eine Reise zum Mars wäre längst nicht mehr so beein­druckend wie die historische Mond­landung. Allerdings ist die optische und geographi­sche Ordnung der Welt eine Täu­schung. Und weil die Satelliten und die Ka­meras nicht alles sehen, bleibt etwas Unbekanntes. Und darum läßt sich noch immer ein Plädoyer für das Reisen halten.

 

Was aber drängt einen zum Reisen in ferne Länder, unbekannte Gegenden, verwunschene Landschaften ? Die Sucht nach Erfahrung oder Einsamkeit, Bestätigung, Fernweh, Abenteuer, Angeberei, die Verwirklichung einer interes­santen Bio­graphie, Reiselust, Heimatfrust ?

 

Nicht selten ist das Fluchtmotiv ein ent­scheidendes Motiv, man muß nicht einmal etwas verbrochen haben. Rimbaud schreibt: "Ich mußte auf Reisen ge­hen, die Zauber verscheu­chen, die sich in meinem Gehirn versam­melt hatten."1  Überhaupt ist eine al­leinige Reise in die Fremde sehr oft eine Reise zu sich selbst, eine Reinigung, eine asketische Übung. Das Ziel, die Umgebung scheint sekun­där, vorausgesetzt man reist allein. Und ich gehe davon aus, daß nur wirklich reist, wer allein reist.

 

Und sei es aufgrund eines anderen Zwanges, der bekannt ist als "weg von hier, nur weg von hier".2   Jener an sich ziellose Zwang, der einen antreibt, die Heimat, die uner­träglich geworden ist, verlassen zu müssen. Dafür lasse ich auch Gründe gelten, mit denen Antonin Artaud 1936 einen in Mexiko gehaltenen Vortrag einleitet: "Ich bin nach Mexiko gekommen, um die europäische Zivili­sation zu fliehen,  hervorgegangen aus sie­ben oder acht Jahrhun­derten bürgerlicher Kultur, und aus Haß auf diese Zivilisation und die Kultur. Ich hoffte, hier eine vi­tale Form von Kultur zu finden, und habe nur noch den Leichnam der Kultur Europas vorge­funden, dessen Europa sich schon zu entledi­gen beginnt."3  Oh ja, dieses so zwiespältige uralte Europa. Was haben die mittelalterli­chen Pilger, die Kreuzfahrer und Ritter wahrgenommen, die Besucher des Teuteburger Hotels ? In seinem essay "Fluchtpunkt San­tiago. Auf der Suche nach einem Ort dies­seits von Eden" bemerkt Dietmar Kamper 4,  daß die muschelähnliche Geographie Europas die schönsten Romanischen Kirchen und Klö­ster versammle, doch sei es für mittelalter­liche Wallfahrten eben nicht mehr geeignet. Schon be­haupten die einen, Europa, das gäbe es gar nicht, die anderen, es stecke über­all, wu­chere und besetze jede Zelle, die un­genannten kümmert es kaum.

 

Doch Wegfahren um nicht hier zu bleiben, ist für Pauschalreisende gleichermaßen Grund wie für die, die trotz aller Kartographierung von Welt, ihre eigenen Traumpfade suchen, um vielleicht, wer weiß, durch Frem­deindrücke stimuliert oder mittels konservierter Ima­gination ein neues Labyrinth zu entwerfen. Wie der aus Nishapur stammende Farid ud-Din Attar, Architekt des seltsamen 30 vögligen Simurghs, Vogel aller Vögel. Attar soll, wie uns Borghes berichtet, nach einem ungewöhnli­chen Gespräch mit einem Derwisch eines Mor­gens all seine Geschäfte aufgegeben haben, um nach Mekka zu pilgern, Ägypten, Syrien, Turkestan und den Norden Hindustans zu durchqueren. Nach seiner Rückkehr hat sich Attar ausschließlich mit Poesie beschäftigt und ein phantastisches Werk hinterlassen.5

 

Oder der Simurgh – eine einstige seltsame Fachzeitschrift für imagi­näre Topographie, die Anfang der 90er Jahre in Mannheim herauskam. Da führte eine Gasse in Kairo ebensoleicht nach Mecklen­burg-Vor­pommern, wie der Zug, der zu­vor in Magdeburg Halt gemacht hatte, als nächsten Stop "Nueva York" ankündigte und auf sehr einfache Weise die festgeschriebene Geographie dieses Pla­neten neu zu komponie­ren versuchte. Eine Zeitschrift für Poesie und Visionen mit Na­men archangelsk, die in Berlin erscheint, ist solchen Intentionen naturgemäß extrem zu­geneigt. Und sollte es dem lesenden Publikum einmal gelingen, die Autorennamen ganz zu vergessen und die Texte als einen Text zu lesen, ergäbe das womöglich eine gleichsam phantastische Topo­graphie ei­nes geschrumpf­ten Planeten. Auf die Menge von Beiträgen kommt es dabei keineswegs an. An­sonsten dürften wir hier ganz überheblich behaupten, daß in dieser Ausgabe von archan­gelsk die wahrscheinlich weit- und meist­gereisten Ber­liner Dichterinnen versammelt sind, von denen sich einige noch immer auf ganz außer­gewöhnlichen Wegen befinden...

 

Inwiefern ihre Reisen, ihr Aufbruch, ihr Un­terwegssein sie für ihr Schreiben inspiriert hat, was sie gesucht haben, was sie beein­flußt hat, bleibt ganz unentschieden und un­terschiedlich und vielleicht auch unerheb­lich. Von Yoko Tawada weiß man, diese Anek­dote wird ihr Leben begleiten, daß sie ihren Weg von Asien nach Europa mit der uns schon klassisch anmutend transsibirischen Eisen­bahn zurückgelegt hat. Allerdings weiß ich nicht, ob sie losfuhr, um anzukommen, oder ankam, weil sie etwas entdeckt oder ein Ziel als solches bestimmt hatte. Von Scardanelli weiß ich, daß die Landschaf­ten, die er zuvor ge­träumt hatte, auch wirk­lich sehen wollte. Für Paul M Waschkau dage­gen ist das Reisen die Bedingung seines Schreibens.

 

"Ich muß," verrät uns Raymond Roussel, "hier von einer recht seltsamen Tatsache sprechen. Ich bin viel gereist. Namentlich in den Jah­ren 1920-21 habe ich eine Weltreise durch Indien, Australien, Neuseeland, die Archi­pele des Stillen Ozeans, China, Japan und Amerika unternommen. Ich kannte damals be­reits die wichtigsten Länder Europas, Ägyp­ten und ganz Nordafrika, und später habe ich Konstantinopel, Kleinasien und Persien be­sucht. Aus all diesen Reisen habe ich nie etwas für meine Bücher geschöpft. Mir schien, das verdiente, mitgeteilt zu werden, beweist es doch, daß bei mir die Einbil­dungskraft alles ist." 6

 

Ganz anders dürfte es sich bei Rimbaud ver­halten. Dieser Bursche ist in seinen jüng­sten Jahren, als er noch schrieb, nahezu durch halb Europa gelaufen, war immerzu on the road. Allein über die Alpen ist er zwei­mal zu Fuß spaziert. Die meisten Texte aus den "Illuminationen" erscheinen mir ohne das "Unterwegssein" kaum vorstellbar. 

 

Was auch für Rolf Dieter Brinkmann gilt. Al­lerdings ist Brinkmann Tiefenreisender. Ei­ner, der zu den Eingeweiden einer Stadt vor­dringt. Ihr unter die Haut kriecht. Der Stadt die Maske vom Gesicht reißt, den Riss im Make-up entdeckt, sie entblößt, seziert, um zuletzt ihren Verfall und ihren vom Para­sit Mensch umwucherten ekelerregenden Befall zu einem abscheulichen Brei aufzukochen. Bei Brinkmann wird jegliches romantische Gefühl bis auf den Stumpf ausgemerzt. "Rom,Blicke" als Reiseführer ex negativo. Nach der Lek­türe müßte jedem nicht nur Rom sondern ganz Italien ungenießbar werden.

 

Doch so lange noch einer wie in ippolits ar­changelsk-poem sagen kann - "we still have climate zones" - wird es viele von uns dort- hin ziehen, wo wir nicht sind.

 

 

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1.Rimbaud in Delirien II, Eine Zeit in der Hölle / 2.vgl.Kafka, Der Auf­bruch / 3.Artaud, Mexiko, Matthes & Seitz, S.318/ 4.Kamper in Hierogly­phen der Zeit / 5.vgl. Borges, essay: Der Simurgh in Die letzte Reise des Odysseus/ 6.Roussel Wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe

 

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„Die Reisen und die Dichter - Die reisenden Dichterinnen“ erschien als essayistisches Vorwort zur Ausgabe 5 „STÄDTE – LANDSCHAFTEN – REISEN“ der ZEITSCHRIFT FÜR POESIE UND VISIONEN „archangelsk“ – 1995.